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Von der Linie als Zeichnung
Die Zeichnung ist seit prähistorischer Zeit bis heute
die unmittelbarste bildnerische Ausdrucksmöglichkeit des Menschen.
Mit ihr hielt er, in flüchtigen Skizzen und individueller Handschrift
seine Beobachtungen, Ideen, Pläne, Gedanken und Eindrücke
fest; aus ihr entwickelten sich die Schriftzeichen. Neben diesen und
vielen anderen kulturellen Funktionen, diente die Zeichnung seit dem
Mittelalter in der Kunst vor allem als Vorstudie zu Gemälden und
Skulpturen und konnte sich erst in neuerer Zeit auch als autonomes Kunstwerk
emanzipieren. Ob einfarbig oder bunt, ob in Stein geritzt, in Keramik
gebrannt, auf Papier gezeichnet, in Büchern gedruckt oder mit dem
Computer erstellt, gleich mit welchem Farbstoff oder Werkzeug sichtbar
gemacht, haben doch alle Erscheinungsformen der Zeichnung ein entscheidendes
Wesensmerkmal gemeinsam: die Linie.
In der modernen Kunst gibt es eine Tradition der Selbstreflexion
des gemalten Bildes, dabei ist die flächig aufgetragene Farbe selbst
in all ihren Ausdrucks-möglichkeiten Thema des Gemäldes. -
Hier möchte ich anknüpfen - und mache in meinen Arbeiten die
Linie selbst in all ihren Ausdrucksmöglichkeiten zum Thema meiner
Zeichnungen.
Mit Graphitstiften in verschiedenen Härtegraden und
Graphitpulver sowie mit Farbstiften in großer Anzahl zeichne ich
auf glattem, weißem Papier. Linien, in Schraffuren angelegt, bilden
farbige Flächen als „Grundierung“. Einzelne Linien stürzen
darauf ein, verdichten sich, formen sich zu kristallinen, organischen
oder amorphen Gestalten, die auf dem ganzen Format eine Komposition
aus Proportionen und Farbklängen bilden. Ich bearbeite die Gestalten
weiter. „Linienkörper“ mit Licht und Schatten und Raumillusionen
entstehen. In dieses Gefüge greife ich ein, überarbeite die
Körper immer wieder mit Radiergummi und Schmirgelpapier. - Partien
des Bildes entwickeln sich zurück, machen anderen Linien platz,
lassen neue Schichten entstehen, unter denen alte hervorblitzen. So
ist ein komplexes Gebilde entstanden aus sich verdichtenden Linienbündeln,
sowie aus einzelnen Linien, die auf den Betrachter zu oder von ihm weg
tief in den schwarzen Graphitgrund eintauchen. Die Linien bilden nichts
anderes ab als sich selbst, bilden in ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten
einen ästhetischen Kosmos, den ich Zeichnung nenne.
Karl-Heinz Jeiter
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