Text von
Prof. Dr. Klaus Jan Philipp

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Katalog „Karl-Heinz Jeiter – Bezeichnetes“, Stolberg 1987,


Die Objektivität der Dinge
„Kunst bildet nicht ab, sondern macht sichtbar“ (Paul Klee)

Karl-Heinz Jeiter hat sich zum Medium seiner Kunst die Zeichnung gewählt. Sein wichtigstes Arbeitsgerät ist der weiche Bleistift, dessen metallischer Grauton die Farbigkeit seiner Bilder bestimmt. Farbliche Akzente setzt Jeiter entweder durch

Mischtöne zwischen Blei- und Buntstift oder durch markante Striche in Primärfarben,

wobei Gelb und Signalrot überwiegen. Auch das weiße Zeichenpapier ist als Farbfaktor miteibezogen. Jeiter nutzt alle künstlerischen Möglichkeiten des Stiftes: Striche und Strichlagen, die mit dem Lineal gezogen sind, stehen neben freihän-digen, den Duktus der Zeichenaktion wiedergebenden, und Verwischungen leiten zu malerischen Effekten über. Die verschiedenen Techniken sind kontrastierend einge-

setzt, wie auch geometrische Formen (Kreise, Rechtecke, Zylinder, Kegel, Pyra- miden) mit nicht-geometrischen konkurrieren.

Jeiters Zeichnungen lassen sich unter dem kunsthistoischen Gattungsbegriff des Stillebens subsummieren, der Mensch bleibt aus seinen Bildern verbannt. Jeiter sucht allein die Objektivität der Dinge. Freilich entsprechen seine Schöpfungen nicht der geläufigen Vorstellung eines Stilleben, denn sie führen nicht Dinge des täglichen Lebens in artifizieller Überhöhung vor, sondern erfundene Formen, die allein in seinen Zeichnungen ihre eigene Realität gewinnen. Dieser Widerspruch zur Alltagserfahrung durchzieht als roter Faden Jeiters Werk. Waren es zunächst Müllhalden, die er durch ihre Abbildung zu einer höheren Seinsform als kunstwürdig denaturierte, so hat er sich in seinen jüngeren Werken immer weiter von der naturalistischen Abbildung der Enderzeugnisse menschlicher Zivilisation emanzipiert und ist zu den abstrakten Formen nicht im „Leben“ existierender Dinge gelangt.

„Angesammelt“ heißen die meisten Zeichnungen. „Angesammelt“ bedeutet eine aktive zielgerichtete Handlung, beinhaltet immer ein „Getan-haben“ zu einem bestemmten Zweck. „Angesammelt“ bedeutet aber auch Ansammlung von etwas, impliziert die Frage nach dem, was da zusammengetragen ist.

Die Antwort auf beide Fragen liegt in den Zeichnungen selbst begründet. Die erschließt sich dem Betrachter, der sich auf eine Kommunikation einläßt, auf zwei Ebenen, die beide einen spezifischen Zugang in die Gewirrstruktur der Zeichnungen erlauben.

In der Nahsicht gilt es, die individuelle Strukturierung des Formengeflechts zu „durchschauen“, Formen voneinander zu trennen, geschlossene Formen vom gleichförmig strukturierten meist kaum erkennbaren „Hintergrund“ zu lösen und nach Figürlichem zu suchen, das Assoziationen erlaubt. Doch im selben Moment, wo der Betrachter etwas erkannt zu haben glaubt, oder eine räumliche in die Tiefe gehende Staffelung glaubt wahrgenommen zu haben, verwischt sich dieser Eindruck und wird von anderen gegenteiligen überlagert, verdeckt und schließlich verdrängt. Dieser Prozeß spielt sich immer wieder von neuem ab, so dass der Wahrnehmungsprozeß nicht zu Ruhe kommt.

Erst in der Fernsicht kann der Betrachter einen Überblick erhalten und Ordungsmechanismen aufsuchen. Es bleibt jedoch schwer, eine hierarchische Gliederung oder ein Zentrum auszumachen. Mal ist es eine besondere Form, mal ein Farbakzent, mal eine ins Bild hineinragende Leitfigur, die dem Betrachter die Orientierung erleichtern soll. Doch wie in der Nahsicht kommt es nicht zu beruhigter Wahnehmung. Das Auge springt von Form zu Form, kann sich nirgendwo im Bild aufhalten und eine Pause auf dem Ritt durch die allgegenwärtige Gewirrstruktur einlegen. Der Wahrnehmungsprozeß scheint unabschließbar. Wie immer wieder neue Strukturen erkannt und somit neue Assoziationen gewonnen werden können, die Wahrnehmung also ins Unendliche fortgesetzt denkbar ist, so sind auch die Zeichnungen selbst potentiell ins Unendliche fortsetzbar. Das nervös vibrierende Gewirr scheit zufällig einem endlosen Kontinuum entnommen. Die Kompostionen der Zeichnungen definieren weder ein deutliches Zentrum noch einen genau abgegrenzten unüberschreitbaren Rand. Es sind Ausschnitte aus ihrer eigenen inhärenten Wirklichkeit.

Der Titel „Angesammelt“ erfährt seine wörtliche Entsprechung in den „bezeichneten“ Objekten, die Jeiter neuerdings mit seinen Zeichnungen zu Objektgruppen zusammenstellt. Leicht erkennt der Betrachter in diesen Objekten aus Pappkarton die Dinge aus den Zeichnungen wieder, erscheint ihm faktisch und haptisch das, was er im Bild optisch erfahren hat. Durch diese „3D-Zeichnungen“ erweitert sich Jeiters Werk nicht nur um eine Dimension, er thematisiert damit auch die reale Objektivität der Dinge in seinen Zeichnungen. Sie sind nun nicht mehr nur Phantasieprodukte, die Assoziationen anregen können, sondern tatsächlich da. Sie sind dreidimensionale Wirklichkeit geworden. Durch die Objekte, die nur im Zusammenhang mit den Zeichnungen ihr eigentümliches Leben entfalten, schafft Jeiter seinen Zeichnungen einen dinglichen Lebensraum, in dem sie um so kraftvoller wirken können. Gleichzeitig entlarvt er die vor den Zeichnungen entstandenen Assoziationen von Dingen der Alltagserfahrung als Fiktion. Anstelle der Assoziation tritt nun vielmehr das Wiedererkennen der Objekte in den Zeichnungen. Indem der Betrachter sich jedoch darauf einläßt, die Objekte in den Zeichnungen abgebildet zu finden, akzeptiert er diese als real existierend und überschreitet die in Konfrontation mit den Zeichnungen nur assoziativ überwindliche Grenze zwischen Gezeichnetem und Wirklichkeit. Was er zuvor nicht recht einzuordnen wußte, ist ihm nun selbstverständlich, denn die Dinge, die im Gewirr der Zeichnung aufscheinen, existieren ja wirklich. Erst im Nachhinein wird sich der Betrachter bewusst, daß er sich im Kreise gedreht hat, denn er hat Artifizielles im Artifiziellen wiederentdeckt, fühlte sich dort heimisch , wo er verunsichert sein mußte.

Die Objekte übernehmen so eine Art Hilfestellung und Mittlerfunktion zum Verständnis der Zeichnungen, die unsere Alltagserfahung Lügen strafen. In einer Welt, wo die digitale Sprache der Computer jedes Ding präzise bezeichen und bestimmen kann, wo die Ratio nur in entlegenen Außenbezirken Platz für Mythen und zweckfrei Schöpferisches läßt, wo zwecks Produktionsmaximierung Widerspruch, Kritik und Diskussion nur störten, da ist es erfrischend, eine Kunst des Vieldeutigen und Unbestimmten zu finden und sich offenen Auges auf Irritationen einzulassen.

Wenn die Beschreibungskriterien, die hier auf Jeiters Zeichnungen angewandt wurden, an diejenigen der analytischen Erschließung der sogenennten nicht-relatinalen, d. h. kompositionfreien Kunst der 50er Jahre erinnern, so geschieht dies nicht zufällig. Denn es sind eine Reihe von Analogien in den Bildstrukturen zu beobachten. Gerade im Vergleich mit Jackson Pollock, der mit seinen „dripped paintings“ der Aktion des Malprozesses eine neue Dimension verlieh, scheinen Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich auf. Jeiter große Zeichnungen, deren Gewirrstruktur durchaus an Pollock erinnert, entstehen jedoch nicht in gestischer Aktion, sondern nach Vorstudien. Sie sind also durchaus komponiert, wenn auch in aus-ladender Bewegung hingeworfene Striche nicht fehlen. Es ist das kontrolliert Unkontrollierte, das geplant Spontane, das komponierte Chaos, das die Wirkung der Zeichnungen Jeiters ausmacht. Daß er sich dabei gleichzeitig in den Zeichnungen wie in den Objekten auf einem handwerklichen Niveau befindet, das in der jünsten Kunstszene zugunsten plakativ banaler malerischer Seinsfreude geradezu geächtet wird, macht sein Werk so sympatisch.

Klaus Jan Philipp

 

 

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