Annette Siffrin-Peters (D)
„gemalte Zeichnungen – gezeichnete Malerei“ 2003

zurück zur Textübersicht >>

Katalog „Karl-Heinz Jeiter - Zeichnungen/Dibujos“ Toledo (E) 2003


Gemalte Zeichnungen - gezeichnete Malerei

Am Anfang ist der Punkt. Er entsteht in der ersten Berührung des Zeichenstifts mit dem Blatt. Bewegt der Zeichner den Stift weiter über den Bildträger hin, so entsteht eine Linie. Die Linie, versetzt in Schwingung, schafft eine Fläche. Punkt - Linie - Fläche, das sind die Urelemente jeder Zeichnung.
Hinter allem steht die Bewegung im Raum und diese wiederum ist dominiert vom Faktor "Zeit". Anhand von Karl-Heinz Jeiters Bildern läßt sich all' das exemplarisch studieren. Wenn hier von "Bildern" statt von Zeichnungen die Rede ist, so verweist dies schon auf die Grund Charakteristik von Jeiters Arbeit. Jeiter malt mit dem Zeichenstift. Graphit unterschiedlicher Härte, Farbstift - diese Utensilien des Zeichners setzt er ein, um Bilder zu schaffen, welche die Qualität von Malerei besitzen. Dabei war es der Zeichnung lange Zeit verwehrt, sich gegenüber der Malkunst zu emanzipieren. In der Kunstgeschichte begegnet uns die Zeichnung als Vorstudie, als Experiment oder Kompositions-skizze, der - bei aller Meisterschaft - immer der Status des Unvollendeten, des Vorläufigen, des visuellen Klärungsprozesses anhaftete. Zeichnung - das ist die bildnerische, in Ansätzen oft skripturale Notiz, in Konturen festgehalten und allenfalls noch modelliert durch eine lichte Schraffur. Die Zeichnung deutet Gesehenes und Gewußtes nur an, läßt Raum für das Vage, das Unfertige, für bildnerische Revision. Das künstlerische Resultat, ihre letzte Gültigkeit, findet sie erst bei der Übertragung in das (Öl)Gemälde, dem Fresko oder auch der Skulptur. Zeichner setzen auf die rasche Verfügbarkeit des
Papiers wie auch auf die visuelle Durchlässigkeit seiner Oberflächenstruktur.

Dabei handelt es sich um einem äußerst empfindlichen und vergänglichen Bildträger. Papier kann vergilben, ist empfindlich gegen Feuchtigkeit; es kann zerknüllt, zerrissen werden. Die Solidität einer auf den Keilrahmen gespannten, sorgfältig grundierten Leinwand und des gefirnißten, fertigen Bildes betont im Gegensatz dazu schon in rein technischer Hinsicht den Anspruch eines Gemäldes auf Überdauern. Vordergründig betrachtet stehen Jeiters Arbeiten zu allen genannten Merkmalen einer Zeichnung in Opposition. Kompakt in Komposition und Ausführung gewinnen sie den Nimbus eines nicht revidierbaren, bildnerischen Resultats. Die Schraffuren beherrschen die gesamte Fläche und füllen sie vollständig aus. Verläufe gliedern unwiderruflich die Aufteilung des Formats. Nichts Tastendes, Experimentelles haftet dem virtuosen Umgang mit den Mitteln der Zeichnung mehr an. Den Charakter des schnell zu beschreibenden Skizzenblatts hat das Papier als Bildträger bereits in dem Augenblick verloren, wo Jeiter es akribisch auf die Holzplatte von monumentalen Ausmaßen spannt, unter der die Staffelei in seinem Atelier bisweilen ächzt. An eben dieser Staffelei schafft Jeiter mit den Zeichenutensilien Malereien, die zunächst meist assoziativ gedeutet werden. Geologische Schichtungen glaubt man zu erkennen, interpretiert sie als Verweise auf evolutionsgeschichtliche Zusammenhänge.

Alles dies ist, wie bereits erwähnt, eine vordergründige Betrachtungsweise. Jeiters Bilder fordern vom Betrachter eine Sehweise, die den Ansatz des vordergründig Assoziativen verläßt zugunsten einer differenzierten Wahrnehmung, wie sie den visuellen Impulsen folgt, die das Auge bei eingehender Be-trachtung aufnimmt. Im wörtlichen Sinne sollte der Betrachter seinen Augen (ver)trauen, die ihn durch die kristallinen Kontraste der Schraffuren führen, ihn die chromatischen Skalen der Tonwerte erleben lassen, wie sie sich aus Schichtungen unterschiedlicher Dichte ergeben. Frottageähnliche Spuren sind erkennbar und es bleibt ein Rätsel, ob es sich dabei um Abdrücke des Untergrunds handelt oder um eine verborgene, überzeichnete Struktur. So wird der Betrachter eingebunden in die Realität von (Arbeits) Prozess, Materialität und das Einfühlungsvermögen des Künstlers. Immer wieder legen Jeiters Arbeiten den Verdacht nahe, dass sie mehr verbergen als zeigen. Die Überlagerungen wie die gezielt eingesetzte Wertigkeit der Farben lassen ein Darunter oder Dahinter ahnen, das, obwohl nicht sichtbar, eine feste Größe in der Wahrnehmung bildet. Eine Ahnung, so flüchtig wie die Gegenwart des Künstlers selbst in den Bildern, die in den Auf-zeichnungen seiner Bewegung als spontan gesetzte, schwingende Linien aufscheint um gleich wieder von kontrastierenden Spiel der Addition von Linien zu Flächenstrukturen absorbiert zu werden. Hier setzt die Geste sparsame Akzente und verweist damit eindeutig auf das Genre, mit dem wir es hier zu tun haben - nämlich der Zeichnung, wenn auch in Gestalt von Malerei.
Komplettierend in Bezug auf letzteres muß festgestellt werden, dass es sie tatsächlich gibt: die Skizze zur Zeichnung. Als äußerst disziplinierter Arbeiter notiert Jeiter tagtäglich seine Bildideen in Form von kleinformatigen Kompositionsskizzen, von denen eine Auswahl später an der Staffelei in große For-mate übertragen werden. Sie alle haben lakonisch gefasste Titel, die sich aus einer Chronologie von Raum und Zeit ergeben, wie z.B. "Wien " oder etwa "KL 805" für Blätter, die während des Flugs gleicher Nummer nach Malaysia entstanden. Nichts Anekdotisches haftet diesen Vermerken an; es handelt sich ausschließlich um die Fixierung von Ort und Zeit-punkt der Entstehung jener Skizzen, um deren Verortung in der Zeit.
Die Abfolge von Raum und Zeit wird in den Bildzyklen aufgegriffen, zu der die Skizzen vor der Umsetzung in Jeiters zeichnerische Malerei das Basismaterial liefern. In der Reihung der kompositorischen Variationen tritt die Revision als Merkmal der Zeichnung zutage. Ein Bild innerhalb jeder Serie ist aus dem anderen erwachsen. Eins setzt die Bewegungen des anderen fort, definiert dessen Aussage auf behutsame Weise neu. Die einzelnen Bestandteile erscheinen als Spielarten einer Flächenkomposition mit immer gleich strukturierten Elementen. Sie variieren in Position, Gewichtung und Überlagerung. So bilden sie organische Einzelzellen, eingefaßt in das streng geometrische Gefüge der Reihung innerhalb einer Serie.
Mit ihrer eingefroren Gestik fügen sie sich wie Filmstills aneinander. Am Ende steht schließlich die Serie als in sich geschlossenes Ganzes, als ge-zeichnete Malerei in vollkommener Ausprägung.

Annette Siffrin-Peters

zurück zur Textübersicht >>

 

 

 

 

 

copyright by bestpreiswerbung Aachen