Stefan Skowron (D)
"Linien" 2015

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"Linien", Zeichnungen u. Radierungen, GK Kulturgut e.V., Altes Museum, Geilenkirchen, 2015


Linien

Eine Fläche ist, aus großer Entfernung betrachtet, eine Linie. Wiederum kann die Linie zu einem Punkt gerinnen, sähe man sie sich mit Abstand an. Die Linie, so zumindest möchte man glauben, ist eine, wenn nicht gar ist sie die Konstante in der Kunst. In der Linie bündeln sich die Kräfte. Sie eint Richtung und Dynamik, Form und Volumen, sie verleiht Charakter und trägt selber einen in sich: Eine einzelne Linie vermag es, Harmonie herzustellen, ein Gleichgewicht, vielleicht eine Landschaft so klar und eindeutig vor unseren Augen entstehen zu lassen, dass wir uns an einem anderen Ort wähnen als dem, wo wir gerade stehen. Einzelne Linien können größte unruhige Flächen beruhigen und andererseits den stillschweigendsten Raum ins Chaos stürzen. Die Macht der Linie ist schier grenzenlos. Sie ist wie der Grashalm, der die Erde brechen kann.

Und dabei ist es so einfach, eine Linie zu ziehen. – Ist es das?

Aus der Tradition wissen wir: eine einzelne Linie ist, so sie nicht einem gedankenverlorenen Moment entspringt, stets von Bedeutung. Sie entstammt kulturellen Erfahrungen, umschreibt Formen, kann Körpern ähneln, Gesichter entstehen lassen, Niederschrift sein oder Spiel ("Das ist das Haus vom Nikolaus…"). Und in Farbe ist sie reine Atmosphäre, Stimmung. Viele Linien, vorausgesetzt, dass die sich zueinander verhalten, können diese Bedeutung noch verstärken, können sie derart steigern, dass sie uns wahrhaft erscheinen mag – ein Abbild: Picasso wollte und konnte mit einer Linie unser Bildgedächtnis derart anregen, dass wir uns in eine von Jubelrufen, Musik und aufwirbelndem Staub erfüllte Stierkampfarena hineinversetzt fühlen; Max Uhlig hingegen braucht die Linien tatsächlich bündelweise, um seine identifizierbaren Charakterköpfe und Naturformationen zu entwickeln. Beiden ging/geht es stets um die ihr (der Linie) innewohnende Bedeutung. Sie war/ist Mittel, nicht Medium.

Und Karl-Heinz Jeiter?

Er zeichne jeden Tag, sagt Karl-Heinz Jeiter. Angesichts der teils sehr großen Formate, denen doch nur ein einziges Jahr zur Entstehung beigegeben wird (vgl. z.B. "Toccata und Fuge – J. S. Bach", Bleistift und Farbstift auf Papier, 210 x 330 cm, entstanden 2014), verwundert das nicht weiter. Der tagtäglich gesetzte Strich ist da eher die Voraussetzung. Doch wer, anstelle der Vielfalt möglicher Gattungen zu widmen sich nur mit einer einzigen auseinandersetzen mag, dem muss, so darf vermutet werden, es nicht nur um die Sache selbst gehen. Und dem geht es wohl auch nicht um so etwas wie Meditation. Und also glaube ich, nach dem, was ich gesehen habe und gelesen, auch gehört habe vom Künstler selbst, dass die täglich auf den immer hartweißen Blattgevierten aufgetragenen Linien Beweis sind dafür: Es geht um die Loslösung der Linie von der Vorgabe, es geht um ihre Befreiung von der Gefangennahme durch die Tradition der Bedeutung; es geht um die Linie, die nicht länger Kontur oder Körper oder Stimmung sein soll, sondern die, ob in unfügsamen Bündeln, strengen Kohorten oder aber als mäandernder, aufblitzender Solitär, eine eigene Wichtigkeit vulgo Lebendigkeit besitzen darf, die keine bloß andere oder anderes abbildende, assoziative Bestimmung besitzt, sondern ein Selbst. Was wir erkennen mögen in diesen ineinander verschobenen, aufeinander folgenden "Linienkörpern" – so nennt Karl-Heinz Jeiter das, was aus vielzähligen neben- und übereinander gesetzten, teils verwischten, teils wieder ausradierten oder weggekratzten Linien entsteht und zunächst zu sehen ist -, was also wir erkennen wollten in diesen zueinander gefügten, meist amorphen, oft sensibel farbigen Formationen, das ist unsere eigene Sache und wird uns nicht von einer, der Linie und ihren Verbänden bewusst zugeeigneten Bedeutung vorbestimmt. Jeder erkennt darin im Grunde etwas anderes, ein für ihn stimmiges Bild, sein Bild.

Das Bild, der interpretatorische Konnex, entsteht folglich erst dann, wenn ein Betrachter eine Zeichnung von Karl-Heinz Jeiter ansieht. Zuvor ist sie nur Ausdruck oder Beweis seines tagtäglichen Tuns. Doch im Kontakt mit einem Betrachter, mit uns, ist alles möglich: Gebirgs- oder Wolkenmassive könnten es sein, Erdschnitte, Oberflächenspiegelungen des Wassers oder von Metallen, Brandmauern, Schattenwürfe; tiefschwarze Grafitflächen glänzen silbern und weiße Ebenen werfen Schemen, eine einzelne farbige Kante dominiert feldliniengleich ein ganzes Blatt, indes farbige Felder vor unseren Augen in endlosen Räumen verschwinden – alles ist möglich, und nichts von alledem. Denn es hängt nicht zuvorderst ab von dem, was wir sehen oder wie es sich fügt, sondern wo wir uns gerade befinden, in welcher Gedanken- und Gefühlswelt.

Es ist gerade diese Offenheit der Arbeiten von Karl-Heinz Jeiter, ihre noch eben mögliche Nähe zu dem, was in unser Bildgedächtnis eingeschrieben ist und ihre dabei schon spürbare Distanz zu allem Gegenständlichen, Abbildhaften, die sie für uns Betrachter so interessant, vor allem anderen aber so chancenreich werden lässt – und so kunstvoll.

Und all das wird nur erreicht durch Linien. Doch was heißt schon nur ?

Stefan Skowron

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