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Auf den ersten Blick erscheinen die Werke Karl Heinz Jeiters wie Gemälde, erst
dem die Gesamtkomposition aus dem Auge verlierenden Nähertretenden erschließt
sich, dass er auf eine Zeichnung blickt. Unzählige farbige Linien, mit Buntstiften
unterschiedlicher Härte dicht an dicht und oft sich überdeckend das Weiß des
schweren, glatten Papiers füllend, ergeben flächige Gebilde – Linienkörper, wie
der Künstler sie selbst bezeichnet - die man sonst lediglich mit dem Pinsel erzielt.
Flächen und Gebilde, die Räume öffnen und eine ungewöhnliche Tiefenwirkung entfalten.
Karl Heinz Jeiter experimentiert mit der Zeichnung, lotet ihre Möglichkeiten aus und
hebt die Grenze zwischen linienbetonter Zeichnung und flächenbetonter Malerei auf.
Karl Heinz Jeiter ist ein fleißiger Künstler, dessen Wahlspruch, der auf den römischen
Geschichtsschreiber und Naturwissenschaftler Plinius der Ältere zurückgeht, lautet:
nulla dies sine linea – kein Tag ohne Linie.
Die einzelne Linie, die in ihrer Singularität kaum mehr wahrzunehmen ist, in eine
Fläche eingeht, die zu kristallinen oder amorphen Gestalten wird; Linien, die sich
von ihrer traditionellen Aufgabe, eine Kontur zu bilden, eine Fläche zu begrenzen,
befreien; Linien, die keine abbildende, keine assoziative Wirkung zeitigen, sondern
einen Selbstwert besitzen; Linien, denen man den dynamischen und kraftvollen
Schwung, die immer wiederkehrende diagonale Strichführung des Rechtshänders
ansieht und ungegenständliche Kompositionen aus Formen und Farbklängen
bilden. Hell- und Dunkelkontraste sowie farbige Abschattierungen verstärken die
Wirkung von Volumen sowie die eines schwebenden Zustandes. Andere Linien
bleiben dagegen als Solitär stehen. Indem Karl Heinz Jeiter die meisten seiner Arbeiten
auf eine Holztafel zieht, negiert er die Materialität des Papiers und bringt seine
Zeichnung auch hier in die Nähe des Tafelbildes.
Ist das Blatt, das eine Größe von 2,50 Metern Höhe und eine Breite von 6,60 Metern
erreichen kann, vollständig gefüllt, arbeitet der Künstler mit einem Radiergummi
und Schmirgelpapier an einzelnen Partien weiter, sodass untere Schichten
erneut freigelegt werden.
Ein feines Gespür des Künstlers für die Wahl der Farbe und der Form lässt den Anblick
der charaktervollen Zeichnungen zu einem ästhetischen Erlebnis werden, sofern der
Betrachter sich Zeit und Muße nimmt, tief in den Zeichenraum einzutauchen. Darüber
hinaus kann in einem synergetischen Empfinden ein ausgewogenes Gleichgewicht,
eine Harmonie entstehen, die jenseits einer künstlerischen Ästhetik liegt und die in der
Lage sein kann, die Seele zu berühren.
Tritt man nahe an das Bild heran, entspinnt sich ein ungemeines Linienchaos.
Mit einigem Abstand werden mancheeine Landschaft assoziieren, andere ein
verworrenes Höhlensystem, Wolkenformationen, wieder andere einen farbenprächtigen
Dschungel, Spiegelungen in einer Wasseroberfläche oder geborstene
Gesteinsschichten. Wieder andere vermeinen ins Bild gesetzte Musik zu sehen,
besonders diejenigen, die wissen, dass Karl Heinz Jeiter während des täglichen
Zeichnens nahezu ununterbrochen die Musik Johann Sebastian Bachs hört.
Lässt man sich auf die Bilder ein, wird man hinweggetragen, und das, was der
Betrachter in diesen Bildern zu sehen und zu fühlen imstande ist, hängt von dem
Standort, der momentanen Stimmung und den Emotionen seiner Person ab.
Erst im Auge des Betrachters wird die Zeichnung zu einem lebendigen Organismus.
Der Künstler selbst sagt über seine Arbeit: "Die Linien bilden nichts anderes
ab als sich selbst, bilden in ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten einen ästhetischen
Kosmos, den ich Zeichnung nenne."
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