Prof. Dr. Wolfgang Becker
Text zu "40 Kantaten", Aachen 2009

zurück zur Textübersicht >>


Visuelle Musik / Musikalische Vision

Karl Heinz Jeiter: 40 Kantaten
40 Farbstiftzeichnungen auf Papier, Je 60 x 60 cm, 2007

1725 dichtete Christian Friedrich Henrici (Picander) den Text zur Kantate 205 von Johann Sebastian Bach. Der Chor singt darin:

Zerreißet, zersprenget, zertrümmert die Gruft,
Die unserm Wüten Grenze gibt!
Durchbrechet die Luft,
Dass selber die Sonne zur Finsternis werde,
Durchschneidet die Fluten, durchwühlet die Erde,
Dass sich der Himmel selbst betrübt!

Und der Gott der Winde, Äolus, antwortet:

Ich geb euch Macht,
Vom Abend bis zum Morgen,
Vom Mittag bis zur Mitternacht
Mit eurer Wut zu rasen,
Die Blumen, Blätter, Klee
Mit Kälte, Frost und Schnee
Entsetzlich anzublasen.
Ich geb euch Macht,
Die Zedern umzuschmeißen
Und Bergegipfel aufzureißen.
Ich geb euch Macht,
Die ungestümen Meeresfluten
Durch euren Nachdruck zu erhöhn,
Dass das Gestirne wird vermuten,
Ihr Feuer soll durch euch erlöschend untergehn.

Die Musik, die Maler und Bildhauer in der Einsamkeit ihrer Ateliers hören, kann zur „Seele“ ihrer Werke werden. Sie vibriert in ihren Oberflächen und dringt in ihre Kerne vor. Sie wird Teil ihrer Idiosyncrasie. Aber nach dieser Musik haben sie lange gesucht, und nun hören sie sie unaufhörlich.

Karl Heinz Jeiter hört unaufhörlich die Musik des Johann Sebastian Bach und insbesondere jene 216 Kantaten, nach denen er diese Zeichnungen benannt hat. Während der mühevollen Arbeit, mit einer Vielzahl harter Farbstifte Bilder imaginärer Landschaften zu schraffieren, füllt ihn das barocke Regelwerk aus, in dem kraftvolle tonale Energien in strengen Ordnungen gebändigt werden.

Vier Sänger, fünf Violinen und zwei Violen, ein Chor und ein Continuo-Orchester – nein, ich nenne sie vier braune, fünf schwarze, zwei gelbe Farbstifte, die sich auf den Blättern bewegen, als wollten sie das Bild eines Gewitters entwerfen, das von dem blauen Himmel ein flutendes Loch zurücklässt. Aber wenn die Musik den Zeichner ganz ausfüllt, erlebt er eine Synästhesie, die ihm erlaubt, ein Bild zugleich zu hören und zu sehen.

Was er sieht und wiedergibt, müssen auch nicht Schichten, Knäuel und Bäusche von Wolken sein, er zeichnet ebenso umschattete, schrundige Felsen in einer dunklen Grotte, die einen Blick auf das Azur des Himmels freigibt – kurzum, er legt dem Betrachter nahe, einem musikalischen Ereignis zuzuhören und zuzuschauen, das sich in der Zeit des Schauens, des Ablesens aufbaut, gegen die starre Ordnung von 40 Quadraten, gefängnishaften Rahmen drückt, auf den Schauenden zudrängt, sich windet, weiter eilt, die Richtung wechselt, - ein proteisches Schauspiel, das die Winde zu bestimmen scheinen.

Jeiter ist Rechtshänder, und darin verbirgt sich eine Konstante der Bewegungen in den 40 Bildern: ihre Bewegungen umspielen die Arbeit des Zeichners von links unten nach rechts oben, und so wechselt jener blaue Fleck, der in allen Blättern erscheint, spielerisch seinen Ort mehr noch als seine Form, als wäre er das continuo in diesen „Kantaten“, das den Hörer und Betrachter durch ihr Labyrinth führt.

Nehmen wir an, dass jedes Zeitalter eine „Signatur“ besitzt, die in allen Künsten sichtbar und hörbar gemacht werden kann. Würde ein Zeichner heute versuchen, die Signatur seiner Zeit, die wir in der zeitgenössischen Musik zu hören meinen, zu verändern, zu verwandeln, historisch aufzuladen, indem er jener des frühen 18. Jahrhunderts nachspürte, die er in der Musik Bachs zu entdecken hofft, so gelänge Ihm ein Sprung durch die Epochen, ein kleines Maß an Zeitlosigkeit. Vielleicht errate ich Karl Heinz Jeiters geheime Sehnsucht für sein 500. Werk...

Wolfgang Becker

zurück zur Textübersicht >>

 

 

 

 

 

copyright by bestpreiswerbung Aachen